Biografie

Helen Spitzer Tichauer (1918–2018)

Gelesen von Marco Wittorf

„Wir waren keine Soldaten, die Frauen waren keine Soldaten. Wir wussten zu Beginn nicht, was es alles bedeutete. Später lernten wir, was der Appell war. Aber es war eine Tortur, denn keiner hatte Erfahrung damit, keiner verstand es. […] Der Appell stand im Zentrum von allem. Alles drehte sich um die Appelle.“

Mit diesen Worten beschrieb die jüdische Auschwitz-Überlebende Helen Spitzer Tichauer eines der zentralen Elemente des Alltags der Gefangenen im Frauenlager in Auschwitz-Birkenau: Das Appellstehen.

Geboren und aufgewachsen in Bratislava in der Slowakei, war Helen Spitzer Tichauer – später bei ihrem Spitznamen „Zippi“ genannt – unter den ersten jüdischen Frauen, die im Frühjahr 1942 nach Auschwitz verschleppt wurden. Spitzer Tichauer musste das Frauenlager in Auschwitz-Birkenau mit aufbauen. Als die SS ihre Fähigkeiten als Grafikerin entdeckte, wurde ihr eine Schreibarbeit in der Lagerverwaltung zugewiesen.

So konnte sie, wie nur wenige Jüd:innen, zweieinhalb Jahre in Auschwitz überleben. Im Januar 1945 wurde Spitzer Tichauer zusammen mit Tausenden Menschen auf einen Todesmarsch geschickt. Dieser brachte die Häftlinge ins Innere Deutschlands; Spitzer Tichauer in ein Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück. Dort erlebte sie im Mai 1945 das Kriegsende und ihre Befreiung.
Helen Spitzer Tichauers Erinnerungen und Interviews über ihre Zeit in Auschwitz sind von großer Bedeutung. Durch ihre Arbeit in der Lagerverwaltung konnte sie sich in verschiedenen Bereichen des Lagers bewegen und erlebte zahlreiche Appelle und Selektionen. Bei diesen wurden kranke und von der Lagerhaft geschwächte Gefangene von SS-Aufseherinnen und SS-Ärzten ausgewählt und für den Tod in den Gaskammern von Auschwitz bestimmt. Spitzer Tichauer erzählte einem Interviewer nach dem Krieg: „Eine Selektion ist wie eine Auslese, die mit dem Fremdwort Selektion bedacht ist. Das war keine natürliche Auslese, das war eine Auslese der SS. […] Sie haben beurteilt nach Laune, nach Aussehen, ob jemand noch arbeitsfähig oder lebensfähig ist oder nicht.“

Bei diesen Selektionen entschied die SS über Leben und Tod. Häufig fand dies während der Appelle statt. Jeden Tag am Morgen und Abend mussten die Gefangenen aus den Baracken heraustreten und oft stundenlang in Reihen stehen.

Um den gesundheitlichen Zustand der Gefangenen zu prüfen, ließen die deutschen Aufseher:innen häufig körperliche Übungen durchführen. Dies nannte die SS Sport. Für die Gefangenen waren diese Übungen Tortur und Strafe. Deswegen setzten sie das Wort Sport in ihren Aussagen nach dem Krieg häufig in Anführungszeichen.

Als Auschwitz-Gefangene musste Stanisława Gogołowska diesen sogenannten Sport als Bestrafung mehrfach selbst durchstehen. Sie berichtete nach dem Krieg: „Soweit es mich betrifft, erinnere ich mich nur an den ‚Sport‘, den wir auf Anordnung der SS-Männer und ‑Frauen praktizierten, der darin bestand, ‚Froschsprünge‘ zu machen, zu rennen, auf den Boden zu fallen und auf Befehl wieder aufzustehen. […] Ich erinnere mich besonders an solchen ‚Sport‘ im April oder März 1944. […] Das gesamte Arbeitskommando wurde aus dem Block herausgeholt und auf einen Schotterweg gebracht, wo wir den ganzen Tag abwechselnd marschieren und ‚Sport‘ treiben mussten. […] Es war ein sehr kalter und regnerischer Tag, und viele der Frauen bezahlten diesen ‚Sport‘ mit schwerer Krankheit, und mehrere starben an Lungenentzündung.“

Nach ihrer Befreiung lebte Helen Spitzer Tichauer – nun häufig bei ihrem Spitznamen „Zippi“ genannt – unter anderem in Australien und New York City. Sie verstarb 2018 im Alter von 99 Jahren.

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